Dienstag, 11. April 2023

Verschickungskinder - mehr als nur Einzelschicksale...

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Bildquelle: unsplash

Warst auch Du ein Verschickungskind?

Liebe Freunde des Friedens und der Freiheit,

liebe Freunde der Liebe und des Glücks,

in der Zeit von 1950 bis 1990 wurden jedes Jahr rund 100000 Kinder zwischen 3 und 15 Jahren in aller Regel für sechs Wochen aus medizinischen oder sozialen Gründen bundesweit in Kuren und Sanatorien entsendet und dabei von ihren Eltern getrennt. Millionen Kinder wurden folglich in dieser Zeit zu einem nicht unerheblichen Teil Opfer von Willkür, Gewalt und Missbrauch, wenn gleich dies Gott sei Dank nicht alle betraf.

Die genaue Zahl der Opfer eines nach dem Ende des zweiten Weltkrieges fortbestehenden Gewaltkultur gegen Kinder ist unbekannt. Sie dürfte aber in die zehntausende, wenn nicht gar in die hunderttausende gehen. Erst mehr als 30 Jahre nach dem Ende dieses dunklen Kapitels in der deutschen Nachkriegszeit, also mehr als 30 Jahre nach dem Tod der meisten Pfleger und Schwester aus dieser Zeit, welche als Anhänger der schwarzen Pädagogik aus dem 19 Jahrhundert und des Nationalsozialismus jahrzehntelang unzählige Kinder misshandelten und missbrauchten, beginnt die Aufarbeitung der Geschichte der zahllosen Verbrechen gegen Kinder. Ein mehr als zäher Prozess, der bislang nur langsam aufgearbeitet wird...

Auch ich war ein Verschickungskind. Insgesamt dreimal wurde ich als Kind in "Kur" geschickt. Das erste mal davon ganz alleine im Alter von vier Jahren in ein Heim nach Bonn. Eigentlich hatte ich dieses dunkle Kapitel aus meiner Kindheit schon längst verdrängt und tief in meinem Unterbewusstsein verschlossen, doch Anfang des Monats wurde ich auf eine Ausstellung im Landtag NRW zum Thema Verschickungskinder aufmerksam gemacht und dadurch an diese dunklen und vor allem schmerzhaften Wochen in meinem eigenen Leben erinnert.

Es waren dies Wochen, in denen ich nach der Trennung von meinen Eltern kurz nach Beginn der Verschickung anfing fürchterliche Bauchschmerzen zu entwickeln und seitens der Schwestern und Pfleger keine Hilfe erfuhr. Erst als ich nach fast drei Wochen endloser Qualen wohl das Bewusstsein im Heim verloren hatte, wurde schliesslich ein Arzt gerufen, der eine bis dahin nicht diagnostizierte Appendizitis (Blinddarmentzündung) feststellte und die notfallmässige operative Versorgung im nächsten Krankenhaus veranlasste, ohne die ich andernfalls wohl bereits den nächsten Tag nicht mehr überlebt hätte, weil Schwestern und Betreuerinnen, sowie die Heimleitung meine Beschwerden nicht Ernst nahmen und anstatt meine Eltern zu informieren und einen Kinderarzt zu rufen meine Beschwerden wochenlang ignorierten. An die Details meiner damaligen "Befreiung" nach dem drei Wochen langen Martyrium aus den Händen dieser Menschen, habe ich keine Erinnerung mehr, da ich zu diesem Zeitpunkt wohl schon das Bewusstsein verloren hatte. Ich wachte erst wieder im Krankenhaus in einem hellen Zimmer auf, in dem mehrere Betten mit anderen Kindern vor großen lichtdurchfluteten Fenstern standen, als plötzlich meine Eltern, meine Mutter und mein Vater, ins Zimmer zu mir kamen. Ich musste wohl gerade frisch aus dem OP gekommen sein und wusste davon aber zu dem Zeitpunkt gar nicht, was mir zuvor widerfahren war, geschweige denn irgendwas von einer Operation. Ich war nur heilfroh meine Eltern wieder zu sehen, die ich damals sowas von vermisst hatte, vor allem in den endlos langen Wochen im Heim mit den nicht enden wollenden und immer stärker werdenden Bauchschmerzen, die keiner ernst nahm. Die Bauchschmerzen damals waren die Hölle gewesen, aus der sie mich nun hoffentlich befreien würden. Sie hatten ein Legoflugzeug mitgebracht, so eins wie dies hier. und es schien alles wieder gut zu werden bis sie mir als kleinem Wurm von 4 Jahren offenbarten, was mir widerfahren war und das man mir den Blinddarm entfernt hatte.

Den Blinddarm?? Oh mein Gott! "Mein Blinddadarm, mein Blindadarm!"

Ich fing fürchterlich an zu schreien und zu weinen - schien ich doch plötzlich realisiert zu haben, dass ich etwas - zumindest für mich als kleinen Knirps damals - besonderes verloren hatte - eben jenen Wurmfortsatz am Ende des Dünndarms am Übergang zum Dickdarm, dem ich heute, mehr als 50 Jahre nach dem für mich damals unvorstellbaren Verlust, nur noch ein müdes Lächeln abgewinnen kann, zumal ich ohne die lebensrettende Operation des bereits perforierten Anhängsels an meinem Dünndarm ansonsten an den Folgen der floriden Bauchfellentzündung und Sepsis seinerzeit hops gegangen wäre und heute nicht diese Zeilen schreiben würde.

Das Ende meines mehrwöchigen "Blinddadarm Dramas*", das endlos lange im Heim konserviert wurde und von dem mich ein Kinderarzt in der Kinderklinik von Bonn erlöste, war schlussendlich, dass ich, kaum das meine Eltern eingetroffen waren, direkt wieder in den OP zur Nahtrevision musste, weil durch meine Aufregung die noch frische Naht aufgeplatzt war, von der ich zu diesem Zeitpunkt selbstredend noch keine Kenntnis hatte - wie auch, war doch das letzte woran ich mich erinnerte, bevor ich ins Krankenhaus kam, dieses unselige Zimmer in dem ich wochenlang alleine und verlassen von der Welt in einem weißen Bett gelegen hatte und keiner mir glauben schenkte und vor allem keiner mir helfen wollte...

Ich glaube, wenn ich dieser Tage an diese lange zurückliegende Zeit denke, dass sie mehr als mir lieb ist, mein Leben in der ein oder anderen Weise beeinflusst hat - privat, wie auch beruflich. Im Beruf äussert sich dies vor allem darin, dass ich bei der Ausübung meiner Tätigkeit die Beschwerden von Patienten - und mögen sie noch so banal erscheinen - niemals für mich oder andere zu bagatellisieren versuche oder nicht ernst nehme und daher schon gar nicht dazu neige diese schon von vornherein als psychosomatisch abzustempeln, zumindest solange nicht bis auf Grundlage einer sorgfältigen Diagnostik nicht alle anderen Ursachen für die Beschwerden ausgeschlossen worden sind, so wie es zurückblickend offenbar bei mir als Kleinkind von gerade mal vier Jahren eben wochenlang vor über einem halben Jahrhundert nicht der Fall war.

Ob diese drei oder vier gottverlassenen Wochen im Heim damals - ohne Hilfe von außen - bei mir mein Vertrauen in die Redlichkeit meiner Mitmenschen beschädigt hat vermag ich rückblickend nicht abschliessend zu beurteilen, da es den Vergleich ohne diese dunkle Zeit, die mich fast umgebracht hätte, nicht in meinem Leben gibt. Es war gleichwohl sicherlich eine ex post für mich damals mehr als harte Zeit gewesen, die mich auch heute noch an vielen Menschen und deren Auffassungsgabe mitunter - vor allem in besonderen und schwierigen Situationen - zweifeln lässt.

Im Vergleich zu den Schicksalen vieler anderer Verschickungskinder in den rund 40 Jahren nach dem Ende des zweiten Weltkrieges, die über noch viel üblere Erfahrungen berichten, als jene dich ich gemacht habe, ist es mir im nachhinein noch verhältnismäßig gut ergangen, da ich nicht, wie viele andere Altersgenossen in dieser Zeit, meine eigenes Erbrochenes wieder essen musste oder anderweitig gedemütigt oder gar körperlich mit anderen Kindern missbraucht wurde. Zumindest habe ich keine Erinnerung an solche persönlichen Erlebnisse, auch wenn die Heime in Bonn, wie sich in Laufe der Jahre inzwischen herausstellte zumindest in zwei Heimen im Hinblick auf Gewalt gegen Kinder später in den Fokus der Forscher gelangten und mit zahlreichen Grausamkeiten aufwarten können.

Über diese traumatischen Erlebnisse von mehr als zwei Generationen von Kindesverschickungen berichtete die oben genannte Ausstellung im Düsseldorfer Landtag von NRW. Die Ausstellung war leider am 31. März bereits wieder vorbei, so wie es sich für die gescheiterte Öffentlichkeitsarbeit in Deutschland von Amtswegen sich stets zu gehören scheint. Selbst auf der Seite des Landtages war dieser Tage nur nach längerer Suche ein Link zur Eröffnung der Ausstellung zu finden, so als wolle man entgegen der eigenen Verlautbarungen das Thema Gewalt gegen Kinder, Kindesmisshandlung und Kindesvernachlässigung möglichst fernab der Öffentlichkeit halten, da in Anbetracht der Ereignisse rund um Corona in den Jahren 2020-2023 durchaus von einer Retraumatisierung der betroffenen heutigen Eltern und Großeltern, sowie der heute lebenden Generation von Kindern gesprochen werden kann. Doch darum soll es in diesem Beitrag nicht gehen.

Immerhin hat der Landtag NRW bereits vor Ausbruch der Coronapandemie einstimmig (!!!) beschlossen, dieses dunkle Kapitel der Gewalt gegen Kinder in mehr als 40 Jahren Kinderverschickung in Deutschland endlich aufzuarbeiten und die in 2019 getroffenen Beschlüsse des Landes NRW zum Anlass genommen die Verbrechen der Nachkriegszeit bei den Kinderverschickung im Sinne der damaligen Opfer aufzuklären, soweit dies nach so vielen Jahrzehnten noch möglich ist.

Zu diesem Zweck wurde dafür wurde am 11. Januar 2022 eine Studie von Professor Dr Marc von Miquel veröffentlicht, die im Rahmen eines Forschungsprojektes im Auftrag des Landesgesundheitsministeriums NRW die Vorkommnisse, die während der Kinderverschickungen in den Jahrzehnten zuvor unzählige Kinder traumatisierte, aufarbeiten soll, da es sich bei den Opfern dieser Zeit nicht um Einzelschicksale handelte, sondern ein systembedingtes Versagen des Staates und seiner Aufsichtsbehörden, welche es erst den Anhängern der schwarzen Pädagogik erlaubte das Leben der Kinder zu zerstören oder zumindest soweit zu beschädigen, dass diese jahrzehntelang noch unter den Folgen, wie z.B. schweren Depressionen usw., litte und mitunter sogar noch heute zu leiden haben.

Inzwischen hat das Land einen Arbeitskreis für Verschickungskinder (AKV-NRW) eingerichtet, der sowohl als Anlaufstelle für heute noch lebende Opfer aus dieser Zeit wie auch zur Aufarbeitung im Sinne des zukünftigen Opferschutzes der nachfolgenden Genrationen gedacht ist.


image.pngQuelle des Bildzitates: Screenshot des Buches zum Thema Kinderverschickung
 im Broschürenservice des MAGS-NRW

Opfer wie auch Interessierte erhalten unter folgendem Link weitere Information. Auch wenn die Ausstellung selber nicht mehr im Landtag NRW zu besichtigen ist, so bietet das Ministerium Interessierten, wie auch Betroffenen eine kostenlose Ausstellungsbroschüre zu diesem hochsensiblen Thema an. Dies kann direkt kostenlos beim Ministerium für Gesundheit bestellt werden und wird versandkostenfrei an ihre Postanschrift geliefert.

Wer selber als Verschickungskind von Gewalt, Misshandlung und Missbrauch betroffen war, erhält unter folgendem Link weitere Hilfe und Informationen zu Anlaufstellen, welche Hilfe für Betroffene anbieten, auch um das Erlebte aufzuarbeiten und die gemachten Erlebnisse zu überwinden und somit zurück ins Leben zu finden. Denn es ist bekannt, dass eine Reihe von Kindern in den 40 Jahren und der Zeit an den Folgen der erlittenen Gewalt und Misshandlungen verstarben.

Daher mein dringender Rat an alle, die noch unter solchen Traumata der Kinderverschickung leiden - holt Euch Hilfe. Denn ihr seid nicht allein und schon gar keine Einzelfälle gewesen.

Licht und Liebe.

Peace.



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