Samstag, 17. Mai 2014

Erinnerungen an den 17. Mai 2004

Als ich am 17. Mai 2004, einem sonnigen Maitag - einem Montag - morgens um 7 Uhr von der S-Bahn nach Hause heimkehrte, wurde ich Zeuge einer Situation, die sich auf der gegenüber liegenden Strassenseite abspielte.

Im Schatten eines Mehrfamilienhauses lag leblos ein Mann auf dem Gehweg, um den sich offenbar zwei ältere Damen zu bemühen schienen, während eine dritte ältere Dame aus ihrem Fenster dem ganzen Treiben interessiert zuschaute. Mir war klar, dass da irgendetwas nicht stimmte. Und sofort querte ich bei laufendem Morgenverkehr die Straße um zu sehen was sich auf der anderen Seite ereignet haben könnte. Dabei hörte ich wie eine der beiden älteren Damen den reglosen Mann mittleren Alters aufforderte sich doch einfach mal zu übergeben, wenn ihm danach sei und klopfte ihm dabei tätschelnd auf die Schulter.

Bewusstlose zum Erbrechen auffordern? Eine grauenhafte Vorstellung. Wenige Sekunden später war ich so denn am Ort des Geschehens auch eingetroffen. Vor mir lag im Blaumann mit Schaum vor Mund und Nase und offensichtlicher Schnappatmung und bestehender Gesichtszyanose (=blaues Hautkolorit) und weiten reaktionslosen Pupillen ein Mann der offenbar einen Herzstillstand erlitten hatte. Als erstes scheuchte ich die beiden älteren Damen zur Seite und drehte den Mann in Rückenlage, konntrollierte die Atemwege und den Puls, der fehlte. Nachdem auch durch Reklination des Kopfes bei dem Mann keine Spontanatmung einsetzte wurde ich tätig. Für einen Moment dachte ich an die Gefahren der Infektion durch Hepatits oder HIV, die sich für mich als Retter durch die direkte Mund-Nase Beatmung auf Grund der Kontamination des Gesichtes durch den Speichel ergaben. Zwar wischte ich den Speichel weg, aber ein Beatmungsaufsatz war nicht vorhanden. Es kostete daher schon Überwindung in das unappetliche Gesicht des Unbekannte, von dem man nicht wusste welchen Lebensstil er fröhnte, seinen Mund auf dessen Nase zu platzieren. 

Aber bei einem Herzstillstand geht es mitunter um Sekunden, da die Ischämietoleranz des Gehirns bei gerade mal 3 Minuten liegt. Also legte ich los. 2 Atemspenden und danach sofort 15 Kompressionen. Enorm wichtig - effektiffe Herzmassage. Das heisst es ist vollkommen egal ob ich dem Mann dabei einige seiner Rippen breche, wenn es um Leben oder Tod geht. 

Denn viel wichtiger ist, dass das Gehirn zumindest einen Minimalkreislauf erreicht, der selbst bei effektiver Herzmassage nur rund 30-40 Prozent des normalen Herzzeitvolumen maximal erreicht. 

Rippenbrüche verheilen - Hirnschäden jedoch nicht...

Da ich alleine war und die beiden älteren Damen sich offensichtlich aus dem Staub gemacht hatten - oblag mir die kardiopulmonale Wiederbelebung zu dem Zeitpunkt alleine. Es knirschte und knackte gewaltig bei der Herzmassage. Doch was allein zählte war möglichst effektiv wieder zu beleben - sprich ein möglichst großes Herzzeitvolumen unter den gegebenen Umständen im Kreislauf des Patienten zu generieren. Und so achtete ich vor allem darauf, während ich komprimierte und die Rippen unter meiner Herzdruckmassage nur so knirschten, ob seine initial weiten und lichtstarren Pupillen sich wieder verengten. Es dauerte ungefähr 5-7 Kompressionen, bis ich beobachten konnte wie unter meiner knirschenden Herzdruckmassage sich wieder die Pupillen des Patienten zu verengen begannen. Ich komme nicht umhin festzustellen, dass mich in diesem Augenblick grosse Freude erfasste, da der Mann somit offensichtlich noch nicht Hirntod war und ich scheinbar noch im rechten Augenblick interveniert hatte, ehe der Hirntod eingetreten war. Der Mann musste also folglich rund 2-3 Minuten vor meinem Erscheinen bewusstlos geworden sein.

Während ich also nun also auf dem Gehweg vor einer zunehmenden Zahl an Schaulustigen damit beschäftigt war, dem Mann vor mir, dessen Gesichtsfarbe sich wieder langsam von blau in rosa verwandelte, im morgendlichen Berufsverkehr neues Leben einzuhauchen, bemerkte ich wie die Frau im Erdgesschoss immer noch neugierig meine Wiederbelebungsmassnahmen verfolgte. Leicht verärgert über ihre Tatenlosigkeit forderte ich sie auf, sich zum Telefon zu begeben und den Notarzt zu verständigen anstatt aus dem Fenster zu gucken. Die Frau erschrack und etwas irritiert machte sie sich auf den Notruf zu informieren.

Von nun an wird es noch ungefähr 8 Minuten dauern bis der Notarzt eintrifft. Ich beatmete erneut die immer noch wenig appetliche Situation. Als ich gerade wieder mit der Herzmassage beginnen wollte, kam eine junge Frau dazu und forderte mich auf weiter zu machen, während sie die Herzdruckmassage übernahm. Sie stellte sich als Intensivschwester vor und legte wie ich bereits zuvor weiter los. Meine Hoffnung, mir würde einer die Mund-Nase Beatmung abnehmen erfüllte sich nicht. Aber zumindest konnte durch die 2 Helfermethode die Effiziens der Wiederbelebung weiter verbessert werden. Nach wenigen Reanimationszyklen kamen erste Reflexe des Patienten zu Tage - aber die Spontanatmung setzte noch nicht ein.

Sirenengeheul näherte sich und während wir beide am reanimiren waren, sprangen zwei Rettungssanitäter mit einem Defibrillator uns zur Seite und meinten nur: " Der Notarzt ist unterwegs! "...

Derweil machte der Patient erste Anstalten wieder Luft zu holen, aber das alles war noch sehr fragil. Meine Wiederbelebungsmassnahmen mit Unterstützung der Schwester mochten zu diesem Zeitpunkt bereits rund 5 Minuten gedauert haben. Wir rissen nun das Hemd des Mannes auf und platzierten die Elektroden. Ein kurzer Blick auf den Monitor und die Diagnose stand fest: "Kammerflimmern". Nun hiess es Hände weg vom Patienten. "Schock!"

Der Patient zuckte kurz - doch auf dem Monitor passierte nicht. Energie erhöht und nochmals - "Schock!". Erneute zuckte der Patient, aber der Puls setzte nicht ein. Das Herz flimmerte weiter...

Nun hiess es erneut reanimieren, damit der Hirnkreislauf nicht zu lange unterbrochen wird. Also zunächst Herzdruckmassage - vor allem effektiv. Es knrischte erneut unter meinen auf den Brustkorb des Mannes aufgelegten Handballen und ich pumpte erneut - tief und fest... 

Derweil hatte einer der Sanitäter einen Ambubeutel zur Beatmung mit Sauerstoff auf den Mund des Mannes aufgesetzt und die Beatmung übernommen. Wir zählten und pumpten. Und nun passiete es. Das Herz fing wieder an zu schlagen - es piepte regelmässig und der Monitor des Defi´s zeigte wieder eine normale Herzaktion an. 

Der Patient hustete und spuckte und nach einem kurzen tiefen röchelnden Atemzug fing er nun wieder zu atmen an. Große Erleichterung war zu verspüren, auch wenn der Mann noch nicht ansprechbar und bei Bewusstsein war. Während wir den Patienten in die stabile Seitenlage brachten war denn nun auch im Hintergrund das Martinshorn des Notarztes zu hören. Es dauerte noch einige Sekunden, da stand der Notarzt und eine angehende Notärztin neben uns. Und während die angehende junge Kollegin den Mann auf dem Gehweg intubierte, bedankte sich der Notarzt ganz herzlich für die erste Hilfe und zeigte sich sehr erfreut, dass der Mann noch lebte. Wie ich später erfahren sollte ist dies bei Ankunft des Notarztes eher die Aussnahme als die Regel, weil vor allem keine Ersthelfer vor Ort die Patienten, die einen Herzstillstand erleiden, adäquat wiederbeleben - sei es aus Scham oder Unkenntnis heraus.

Ich erfuhr noch, dass der Patient in de Uniklinik gebracht werden soll und wir verabschiedeten uns. Zu Hause angekommen, spülte ich mir erst einmal meinen Mund-Rachenraum aus - gurgelt ausgiebig mit einer Polyvidon-Jodlösung und machte mir so meine Gedanken zu den Risiken und Möglichkeiten einer Hepatitis-Infektion oder einer bei der Wiederbelebung erworbenen HIV-Infektion. Grundsätzlich ist das Risiko dafür als relativ niedrig einzustufen, aber es besteht dennoch ein Restrisiko. Daher suchte ich die Uniklinik auf, meldete mich in der Notaufnahme und liess das gesamte normale D-Arztvefahren zum Infektionsausschluss durchlaufen. Eine Infektion mit möglichen Krankheitserregern konnte so denn auch im weiteren Verlauf später sicher ausgeschlossen werden. Ich konnte auch den Namen des Patienten in Erfahrung bringen und erfuhr, dass er auf der Intensivstation liegen würde und notfallmässig wegen einer gravierenden Herzkranzverengung einen Stent implantiert bekommen hatte.

Ich kehrte nach meiner medizinischen Versorgung zurück nach Hause und nahm mir an diesem Tag nichts weiteres mehr vor. Die Sonne schien und das Leben lachte. Allein in diesem Augenblick wurde mir klar, dass sich mein Medizinstudium bereits heute gelohnt hatte. Zwar hatte ich in der Klinik schon mal erfolgreich einen Patienten wiederbelebt, der sich an einem Fleischstück verschluckt hatte und röchelnd und leblos auf dem Boden lag, als ich das Zimmer des Patienten kam. Aber eine Wiederbelebung auf offener Straße mit dem gesamten Reanimationsprogramm hatte ich bis dahin, trotz langjähriger Kliniktätigkeit nicht absolviert.

An diesem Morgen passte alles. Wäre ich auch nur 1 oder 2 Minuten später an dem Patienten vorbeigekommen, er wäre wohl verstorben - an den Folgen des Hirntodes.

Die Wahrscheinlichkeit einen Herzstillstand auf offener Strasse unbeschadet und ohne bleibende Schäden zu überleben, liegt wie ich herausfand bei nur 0.5 Prozent. Sprich nur 1 Patient von 200 Patienten überlebt ohne Folgeschäden einen Herzstillstand auf der Straße in der Öffentlichkeit. Hauptgrund für diese desolate Bilanz ist mangelnde 1. Hilfe durch die umstehenden Menschen. Dies hat zur Folge, dass während der wichtigen ersten 3 Minuten nach einem Herzstillstand, die Patienten einen Hirnschaden erleiden, der irreperabel ist und in vielen Fällen entweder zum späteren Tod des Patienten führt oder zum Wachkoma und dauerhafter Pflegebedüftigkeit.

Daher beschloss ich den Patienten 1 Woche später nochmal in der Klinik auf zu suchen, um mich nach dem Ausgang meiner Wiederbelebungsmassnahmen zu erkundigen. Ich erfuhr, dass man ihn von der Intensivstation auf die Normalstation verlegt hatte. Auf der Normalstation angekommen öffnete ich neugierig die Tür zum Patientenzimmer und erblickte sitzend einen lachenden lebensfrohen und glücklichen Vater von 2 Kindern im Schulalter, der mich dankbar zusammen mit seiner Schwester anstrahlte und auf unnachamliche typisch rheinische Düssledorfer Art bei mir für meine Hilfe bedankte.

Was für ein Unterschied zur Situation 1 Woche zuvor noch auf dem Gehweg während der Wiederbelebung. Es stellte sich heraus, dass er mit seiner Familie nur einige Häuser entfernt von mir wohnte. Vor allem aber hatte er keinerlei Schäden durch seinen Herzstillstand, den das Kammerflimmern ausgelöst hatte, davon getragen. 

Seine Chance für einen guten Ausgang lagen, bis zu meinem Eintreffen an dem Tag, bei lediglich 0.5 Prozent.

Mir wurde jedoch auch klar dass dafür 199 andere Patienten statistisch betrachtet genau das andere Schicksal - nämlich Wachkoma oder Tod - ereilte. Und so lagen Wehmut und Freude über den glücklichen Ausgang nahe beisammen. 

Am Ende stand die Erkenntnis, dass in Deutschland im Bereich der Wiederbelebungsmassnahmen und der Ersten Hilfe durch Personen und Bürger zu wenig getan wird. Denn ich wünsche mir nichts sehnlicheres, als solche Momente, wo Patienten unbeschadet nach einer Wiederbelebung einen vom Bett aus anlächeln.

Leider sind diese Fälle eher die Ausnahme, als die Regel. Die meisten Patienten landen im Wachkoma als Folge der Untätigkeit der Umstehenden. Nun wurde mir auch klar, warum der Notarzt sich gefreut hatte, als er an den Ort der Wiederbelebung gelangt war...


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