Bus
Stop
von Cord
Uebermuth
Es war
schon spät als Marty im Dunkeln an der hellerleuchteten Busstation auf dem Weg
zum Altglascontainer vorbei kam. Der Rucksack mit dem Altglas klapperte auf
seinem Rücken, als er den Obdachlosen im Licht der C&A Werbung auf den
verwaisten Plätzen der Haltestation erblickte. Seine Habe lag zu seiner Linken
in der Ecke des Bushäuschens und seine Jacke zu seiner rechten unter dem Plakat
der C&A Werbung, auf dem ein junges Mädchen mit einem „Welcome Hawaii“
T-Shirt abgebildet war...
Marty ging
auf das Bushäuschen zu und fragte, ob er was für Ihn tun könne. Der alte Mann,
der in die Bildzeitung vertieft war, schaute über den Rand der Zeitung und
musterte ihn aufmerksam und skeptisch. Schliesslich legte er die Revolverpresse
zur Seite.
„Hast Du `ne Kippe für mich?“, fragte der Mann ihn und Marty
verneinte. „Na ja auch nicht schlimm“, meinte der Alte und winkte dabei mit
seiner linken Hand und einem Lächeln fröhlich ab. Seine entblößten Füße
schauten aus zertretenen Turnschuhen zu ihm nach oben. Ein riesenhafter Bart
umspielte seine funkelnden wachen und lachenden braunen Augen. Sein ganzes
Wesen strahlte und seine Augen glänzten. Der Obdachlose zog sich eine Zigarette
aus einer verknitterten Zigarettenschachtel, die er aus seiner verdreckten Hose
gezogen hatte und fragte Marty nach Feuer. Der musste wiederum verneinen und so
zog der Alte mit dem nächsten Handgriff ein Feuerzeug aus seiner rechten
Hosentasche und zündelte sich die Zigarette selber an und nahm danach
genussvoll einen tiefen Zug. Schliesslich bot er Marty einen Schluck aus seiner
Weinflasche an und meinte zugleich dazu: „Ein vorzüglicher Tropfen ist das!“
Nicht das er den immer trinken würde, nein so einer, wie die anderen, sei er
nicht...
Es schien so, als wollte er sich für seinen Tafelwein, den er
so lobte und den er bei sich hatte, entschuldigen.
Nein, so wie die anderen sei er bestimmt nicht – er studiere,
betonte er, er liebe die Sprachen und alles andere was damit zusammenhängt.
Linguistiker sei er und er gebe den Studenten, besonders jenen aus dem Ausland
an der Universität Nachhilfeunterricht.
Er kenne all die anderen von seinen
Leuten. Die meisten von denen seien wahre Sozialschmarotzer, betonte er, allen
voran jene, die überall die
Obdachlosenzeitungen verkaufen würden. „Die fahren in Wirklichkeit dicke
Autos, haben fette Eigentumswohnungen
und tun nur einen auf Obdachlos machen!“ , entfuhr es ihm.
„Den meisten von denen
geht es besser als vielen anderen in der Bevölkerung.“, sprudelte es aus ihm
heraus. „Das sind richtige
Verbrecher, kauf bloß niemals irgendwas von denen. Die tun nur so als ob - die
meisten zumindest...!“, erklärte er.
Und überhaupt, er wäre keiner von diesen Sozialschmarotzern,
ließ er Marty wissen. Er arbeite durchaus wo er kann und helfe vielen Menschen
aus...
„Wie heißt Du ?“, fragte er schließlich Marty und wusste
sofort um die Herkunft des Namens und stellte fest, das der Name aus dem
Englischen käme. Die englische Sprache war ihm sehr vertraut, er liebte diese
Sprache und eine Vielzahl englischer Zitate sprudelten aus ihm hervor. Er
philosophierte eine ganze Weile über die Mentalität der Deutschen und die der
Engländer und kam schließlich über Gott auf die Puritaner zu sprechen, die am
schlimmsten von allen seien. Denn die
verstünden überhaupt keinen Spaß und auch nicht zu leben, entwich es ihm.
„Die Puritaner sind
defätistisch veranlagt. Das ist schlimmer als destruktiv zu sein...“, betonte
er. Ob er denn wüsste, was Defätismus sei, fragte er Marty und der musste
erneut verneinen.
„Nun Defätismus ist genau jene Eigenart, vor allem die der
Puritaner, immer alles schlecht machen zu müssen“ und das sei schlimmer, fuhr
er fort, als alles andere, schlimmer als wenn jemand etwas zerstöre.
“Die Puritaner sind
Defätisten durch und durch und können sich überhaupt nicht am Leben erfreuen.“,
stellte Reinhardt, der Freischaffende, fest. Und während er über die Grundzüge
des Lebens philosophierte und wiederholt die Vorzüglichkeiten seines Tafelweins
lobte, pries er die englische Sprache und die englische Lebensart...
Schliesslich drückte er gewissenhaft die Zigarette aus und
warf sie in den Plastikmülleimer der Haltestelle. Seine Füße waren blau und die
Haut schuppig.
Er bemerkte, das Marty dies sah, und erklärte ihm, das er Socken
zur Zeit nicht trage und die Schuhe nicht zubinde, da er sonst Schmerzen habe. Er lehnte neue Socken, die Marty ihm anbot energisch und bestimmt ab.
Stattdessen nahm er einen kräftigen Schluck von seinem Rebensaft, der ihm so
vorzüglich mundete und erzählte weiter aus seinem Leben, seiner Arbeit als
Bauzeichner und Betonverleger in jungen Jahren, über seine Ausbildung und
Pfusch am Bau, über Arbeitsplatzverlust und natürlich über seine puritanischen
Eltern, die ihn in jungen Jahren verstoßen hatten.
Das Leben sei etwas besonderes, stellte er fest und die
meisten Menschen freuten sich zu wenig daran. Er lebe lieber auf der Strasse,
als im großen Haus bei seinen Eltern Unterschlupf zu finden...
Seine Eltern
seien Puritaner und wüssten nicht zu leben. Und so plauderte er noch eine ganze
Weile über die Auswüchse des Lebens und dem Leben auf der Strasse, darüber das
der Juli und der August verregnen würden, wenn der Juni weiterhin so sonnig und
warm bliebe wie bereits zuletzt der Mai...
„Sonnige und heiße Sommer gibt es nur, wenn der Juni
verregnet und kalt ist!“ , stellte Reinhardt sachlich fest. Zumindest sei das
seine Erfahrung aus vielen Jahren auf der Strasse. Ein kalter nasser Juni sei
ihm grundsätzlich lieber als ein warmer Juni, wie der jetzige - und überhaupt, wenn der Sommer heiß würde, so
wüsste er wo es das kühlste Wasser der ganzen Stadt gäbe. In den endlosen
Katakomben der Unikliniken nämlich – an einer ganz besonderen Stelle, die nur
er kannte. Das sei ein wahrer Segen an heißen Sommertagen...
Reinhardt erzählte von seinem guten Netzwerk an Leuten und
Informanten, die ihm immer helfen würden. Und so ginge es ihm gar nicht
schlecht. Es bliebe sogar genug, um die anderen seiner Kumpels, denen es gar
nicht so gut ging wie ihm, zu versorgen. Reinhardt erzählte bis spät in die
Nacht über das Schicksal auf der Strasse. Eine Unzahl an Bussen hielten in
dieser Nacht noch vergebens an der Busstation, während sich die Schöne vom
C&A Plakat mit ihrem dunklen wallenden Haar vor ihm rekelte...
Auch in den Tagen nach dieser Nacht sah Marty Reinhardt und
das C&A Mädchen noch des öfteren gemeinsam an der Busstation. Sie hieß ihn
- mit ihrem enganliegenden T-Shirt an ihrer Brust - auf dem Plakat auf Hawaii stets willkommen, war immer freien Herzens - offen
und auffordernd - für ihn und alle
anderen am Busstop.
Auch wenn sie kein Wort mit Ihm wechselte, so erblickte Marty
Reinhardt, den Freischaffenden, später noch einige Male am Bustop in Gegenwart
der Plakatschönen – mal ihr zu Füssen liegend, mal vor ihr - ganz abwesend - in die Zeitung vertieft...
Sie verbrachten viele Stunden gemeinsam. Ihre Gegenwart schien ihm zu behagen –
auch wenn sie kein Wort mit ihm wechselte... Aber vielleicht war es genau dies,
was er suchte, so wie viele Männer – etwas Ruhe und Abgeschiedenheit – abseits
von all dem Lärm und der Unbill des alltäglichen Lebens...
Schliesslich
verschwand sie – und mit ihr wenig später auch er....
Ein letzter
Nachtrag zum Sommer: „Der Juli und der August verregneten...“
Düsseldorf
im Spätsommer 2005
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